Warum eine Bewusstseinserweiterung Hand in Hand mit Pflege und Vertiefung unseres Gewissens geht.
Ein Essay von Mehrdad Noorani und Helmut N. Gabel, Januar 2021
Philosophische Betrachtung zu Gewissen und Moral – Der innere Richter Immanuel Kants – Was Sufis über das Gewissen denken – Durchführung von Mohassebeh – Was Sufis zu Gewissen und Bewusstsein sagen – Die Lehren für eine zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft
Viele großen Geister der Menschheitsgeschichte haben sich mit Vorstellungen, Konzepten und Anschauungen von der menschlichen Gewissensfunktion beschäftigt. Immanuel Kant und Sokrates gehören zu diesen großen Geistern. Aussagen spiritueller Lehrer – wir beziehen uns hier vor allem auf Sufi[1] Lehrer – beinhalten ähnliche Anschauungen, wie sie in Schriften der Philosophen zu finden sind. Darüber hinaus sprechen die spirituell orientierten Denker jedoch zusätzlich von einem Zugang zur Seele eines Menschen oder dem Ursprung des Bewusstseins eines Menschen durch Selbsterkenntnis. Dies gilt als Ergebnis eines sich allmählich entfaltenden Reifungsvorgangs, also eine spirituelle Entwicklung.
Das bedeutet, dass für einen fortgeschrittenen Sufi-Praktizierenden das Konzept des Gewissens eng verbunden ist mit dem Phänomen, das den Sufis die eigene Gewahrwerdung ermöglicht, also ihrer Seele oder ihrem Bewusstsein. Dieser Reifungsprozess geht langsam vonstatten. Er ist die Folge einer regelmäßigen Anwendung spiritueller Übungen und geht in aufeinanderfolgenden Schritten vor sich. Genau dieser evolutive Charakter des Reifevorgangs unterscheidet den Ansatz der spirituellen Lehrer von jenem der Philosophen. Nichtsdestotrotz ist es möglich, dass man als spirituell Suchender die Konzepte der unterschiedlichen Philosophen, wie zum Beispiel Kants redegewandten Darlegungen, periodisch durchlebt. Das liegt daran, dass zu Beginn der persönlichen Gewissensprüfung, immer die Fähigkeit zu reflektieren und das eigene Verhalten zu überprüfen, steht. Diese Methode gleicht der Vorgehensweise von Philosophen, die damit die Moral und das ethische Verhalten untersucht haben.
Philosophische Betrachtung zu Gewissen und Moral
Obwohl Reflektion und Selbsterkenntnis für einen spirituell Suchenden der Anfang dieses allmählichen Vorgangs darstellen, stellen sie keineswegs das Ende des Prozesses dar. Die Suchenden lernen mit Hilfe geistiger Übungen ihr Gewissen überprüfen und später noch mit dazugewonnen feinsinnigen Fähigkeiten wie Intuitionen oder Inspirationen. Sogar göttliche Offenbarungen sind möglich, wenn eine geistige Führung durch ein höheres Bewusstsein abhängig von der spirituellen Reife der Suchenden einsetzt. Das bedeutet, dass die Perspektiven eines Geistesforschenden auf das Konzept des Gewissens stetigem Wandel unterliegen. Gleichzeitig tragen diese Perspektivzuwächse zur Entwicklung der Suchenden bei, verändern ihren Bezug zur Geistseele und somit letztlich auch den Bezug zum universellen Bewusstsein.
Wenn ein spirituell Suchender die Aussagen eines Philosophen wie Sokrates betrachtet, wird er oder sie darin einige Spuren einer solchen schrittweisen Entwicklung finden. Sokrates war nicht nur Philosoph, er war auch ein spirituell Suchender. In folgender Aussage lesen wir, dass er den Sinn seines Lebens auch auf Selbsterkenntnis ausgerichtet hatte: „Unbewusst zu leben, hat keinerlei Wert“.[2]
Diese Anschauung wird den Sufi Adepten von ihren Lehrern ebenso beigebracht. Sokrates hielt darüber hinaus die Selbsterkenntnis für eine hinreichende Bedingung für ein gutes Leben. Für ihn war Selbsterkenntnis eine Tugend. Für einen Sufi bedeutet Selbsterkenntnis sich ihres Seelenlebens und ihres Bewusstseins gewahr zu werden. Ihr Bewusstsein erweitern sie zum Teil durch eine kritische Betrachtung ihres Verhaltens und Prüfung ihres Gewissens. Diese Tätigkeit der Selbst-Überprüfung heißt im persischen Jargon der Sufi Mohassebeh[3]. Wir könnten auch von einer regelmäßigen strukturierten Gewissensprüfung oder Rückschau sprechen zum Zwecke der Selbstkultivierung.
Der innere Richter Immanuel Kants
„Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen […] ist das Gewissen. Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwa, was wer sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Gelüste und Zerstreuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Ebenso ist das Gewissen nicht etwa Erwerbliches, und es gibt keine Pflicht sich eines anzuschaffen, sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich […] Wenn man daher sagt: dieser Mensch hat kein Gewissen, so meint man damit: er kehrt sich nicht an den Anspruch desselben (Eine Pflicht ist nur, sein Gewissen zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden…, um ihm Gehör zu verschaffen.)“ – Immanuel Kant[4]
Die Betrachtungen Immanuel Kants in Bezug auf Ethik und Moral sind genau genommen komplexer und lassen sich nicht so einfach interpretieren, was oft zu irrigen Vorstellungen führen kann. Kants Konzept vom Gewissen ist eine Motivations-Theorie, die im Rahmen einer Denk-Theorie auftritt. Kant unterscheidet das Gewissen von moralischen Prinzipien und moralischem Urteil, die dem Gewissen nachgelagert sind, jedoch eher mit praktischer Vernunft in Verbindung gebracht werden, statt mit Gewissen. Kant scheint das Gewissen unter zwei Hauptaspekten zu betrachten:
(a) als eine unserer moralischen Empfindungen, die durch unser Pflichtprädisposition bedingt ist; und (b) als ein entscheidender Aspekt einer grundlegenden Pflicht uns selbst gegenüber, der Pflicht zur Selbst-Überprüfung und Selbsterkenntnis als unser eigener innerer Richter.
Kants Theorie ist gewiss keine Theorie über Moralwissen, da er das Gewissen unterscheidet von der Fähigkeit eines moralischen Urteils. Das moralische Urteil ist die einzige Quelle für moralisches Wissen, das man im Vorgang der Selbst-Überprüfung (und den damit verknüpften Handlungsmotiven) durchführt, was zur Gewissenskultivierung beiträgt.[5]
Daher bildet die Gewissens-Theorie Kants den Vorgang der Selbst-Überprüfung und Selbst-Bewertung ab. Dies gleicht in der Tat dem Anfang der Mohassebeh Übung, die man von einem erfahrenen Lehrer lernen kann.
Was Sufis über das Gewissen denken
Hassan Basri[6] war der erste Sufi, der die Prinzipien des Mohassebeh schon tausend Jahre vor Kant geschildert hat. Diese von Hassan Basri beschriebenen Prinzipien von Mohassebeh sind allerdings nicht in Stein gemeißelt, da sie sich weiterentwickeln, so wie sich die Schüler weiterentwickeln. Diese Entwicklung geschieht Schritt für Schritt und wird von qualifizierten Lehrenden begleitet. Diese autorisierten Lehrer haben die verschlungenen Pfade einer spirituellen Entwicklung selbst bewältigt und haben ihre eigene Essenz zur Entfaltung gebracht. Dadurch haben sie wahre Selbsterkenntnis erlangt, wie sie Sokrates schildert: durch eine tiefe Verbindung ihres eigenen Bewusstseins mit dem universellen Bewusstsein.
Die Entwicklung des Gewissens gleicht in gewisser Weise dem Aufbau der Fähigkeiten eines Gewichthebers, schwere Lasten zu stemmen. Keiner kann beim ersten Versuch gleich 200 kg stemmen, doch bauen sie ihre Kapazitäten allmählich und durch tägliches Üben auf. Sie beginnen mit etwas leichteren Gewichten, um ihre Muskulatur aufzubauen, dann stemmen sie etwas schwerere Lasten, bis sie eines Tages ihre Muskulatur so stark aufgebaut haben, dass sie in der Lage sind, 200 kg zu stemmen. Diese Methode wenden Sufis beim Aufbau ihres Gewissens an, da sie sehr bald lernen, dass ihre innere Entwicklung direkt mit der Evolution ihrer Absichten, Gedanken und Handlungen zusammenhängt. Dieser Weg ist ein stetig schmaler werdender Pfad.
Durch diesen Vorgang bemerken die Schüler, dass einst als gute oder verdienstvoll eingestufte Absichten, Gedanken oder Handlungen, für ihre Weiterentwicklung nicht ausreichend oder empfehlenswert sind. Das bedeutet, sie müssen ihre Motivation, Absichten, Gedanken und Handlungen weiter verbessern, wenn sie weiter fortschreiten wollen. All das beinhaltet die Notwendigkeit, immer selbstloser zu werden. Daher gibt es für fortgeschrittene Schüler Momente, in denen frühere empfehlenswerte Handlungen eher beklagenswert werden. Diese Einschränkung von Handlungsoptionen gelten als der zuvor erwähnte schmaler werdender Pfad.
Da eine echte geistige Entwicklung unter der Obhut eines authentischen Lehrers ihren Ausgang nimmt, beginnen Schüler ihre Verhaltensweisen zu überprüfen und zu den tieferliegenden Motiven zu gelangen, um danach ihre Verhaltensweisen zu verändern, so dass sie ihre Gedanken und Verhaltensweisen von der Kontrolle durch das Ego befreien.
Parallel zu diesem Vorgang zeigen Lehrer den Schülern eine Reihe spiritueller Übungen, die eine Verbindung zwischen den physischen und den metaphysischen Seiten des Schülers stärken und ebenso eine Verbindung schaffen zwischen den Seelen der Schüler zu ihrem Ursprung. Dieser Prozess ist endlos, da eine geistige Entwicklung ein endloses Entwicklungsgeschehen ist. In der Tat ist es ein Weg der Vereinigung zwischen einem relativen Tropfen, unserer Seele und dem unendlichen Ozean des Bewusstseins, unserem Ursprung. Auf dieser Reise vertieft sich die Verbindungsfähigkeit der Schüler, ihre Liebefähigkeit wächst und auch der Respekt vor allen Erscheinungsformen im Ozean des Seins und seiner Vielfalt auf allen Daseinsebenen. Dies ist der eigentliche Entwicklungsprozess, den alle authentischen spirituellen Meister aller Richtungen unternommen haben, die jemals gelebt haben. Daher betont Sa’adi[7] in einer Gedichtzeile:
Störe nicht die Geschöpfe, auch nicht einer Ameise Leben,
Denn ihr Tun ist kostbar und sie schätzt es wert.
Die prozesshafte Natur der Gewissensentwicklung ist insofern relevant, als dass sie individuell angepasst werden kann und für Suchende aller Entwicklungsstufen zugänglich ist. Sie kann für jedwelche Fähigkeitsstufen zugeschnitten werden und ermutigt jeden interessierten Menschen durch eine methodisch schrittweise Art, bewusster zu handeln.
Somit ist Mohassebeh ein sehr beweglicher Vorgang, der allen Suchenden ermöglicht, in ihrem eigenen Tempo zu wachsen. Dazu lässt sich die Durchführung sehr einfach in das eigene Leben einflechten. Es ist eine Verrichtung, die von Anfängern einmal am Tag ausgeführt wird. Durch die regelmäßige Anwendung von Mohassebeh erkennt ein spirituell Suchender nach und nach die einzelnen Facetten seines Egos im Lebensvollzug und lernt schließlich durch tiefe Reflektion und Analyse seines Verhaltens, sein Ego zu überwinden.
Durchführung von Mohassebeh
Man kann sich am Tagesende in einen stillen Winkel zurückziehen, um alle Handlungen und Begegnungen aufzuschreiben. Dazu werden die Ereignisse kategorisiert in die, welche Einfluss auf uns haben und die, welche einen Eindruck auf andere gemacht haben und für uns in der Konsequenz erkennbar sind. Die Schüler zielen mit Mohassebehdarauf ab, zwei verschiedene Kategorien von Gedanken und Handlungen zu unterscheiden: die Gedanken und Handlungen, die einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft und ihre Weiterentwicklung haben und jene, die der Gesellschaft und ihrer Entwicklung schaden.
Handlung/Begegnung | Wirkung auf mich/Reaktionen | Wirkung auf andere/Reaktionen |
Handlung/Begegnung | positive Wirkung für mich | negative Wirkung für mich | positive Wirkung für andere | negative Wirkung für andere |
Diese zwei Hauptkategorien soll man dann weiter unterteilen.
Zum Beispiel können die negativen Auswirkungen der Handlungen weiter unterteilt werden nach Gedanken und Handlungen, die aus Ärger, Gier, Eifersucht, Nachlässigkeit usw. rühren, während positiv konnotierte Gedanken und Handlungen in Güte, Mitgefühl, Einfühlungsvermögen, Sorgfalt usw. unterteilt werden können. Schließlich soll man die Häufigkeit der auftauchenden Gedanken und Handlungen in jeder Unterkategorie vermerken und sich dann darauf fokussieren, sowohl die häufigsten negativen Eigenschaften in ihrem täglichen Vollzug zu verringern, als auch die am wenigsten praktizierten positiven Eigenschaften aus ihrer Untergruppe in der Häufigkeit zu steigern. Danach geht man an die nächsten Eigenschaften im Ranking heran.
Anzahl | Handlungsmotiv n | Handlungsmotiv p | Anzahl |
6 | Ärger | Güte | 5 |
1 | Gier | Mitgefühl | 3 |
3 | Eifersucht | Einfühlungsvermögen | 1 |
Man lernt also durch diese Maßnahme allmählich ein Gleichgewicht in seinem Verhalten zu schaffen und Gedankenbilder zu erzeugen, die einem allmählich ermöglichen den Antrieb und die Motive des Egos zu beherrschen.
Man sollte wissen, dass in dieser Übung das eigene Gewissen der Richter über das eigene Handeln ist und man keinesfalls einen anderen Menschen verurteilen sollte. Andere zu beurteilen oder gar zu verurteilen ist ein Ablenkungsmanöver des Egos, um uns daran zu hindern das eigene Ego zu überwinden.
Wenn man beginnt die eigenen Gedanken und Verhaltensweisen täglich niederzuschreiben und zu kategorisieren, entsteht schwarz auf weiß eine Landschaft der eigenen Verhaltensmuster! Das, was davor im Unterbewusstsein verborgen lag, wird sich durch diesen Vorgang nach und nach zeigen. Das ist ein Schlüsselaspekt. Denn erst wenn man diese Muster schwarz auf weiß vor sich sieht, hat man eine Chance sein Ego beherrschen zu lernen! Ansonsten wird man ein Leben lang von seinem Ego genarrt werden, das sich hinter vielen Masken verbergen kann!
Folgende Sufi Geschichte veranschaulicht dieses Prinzip: Es war einmal ein Tag, an dem ein Sufi eine Menschenmenge nahe einem Dorf beobachtete. Sie hatten sich um einen alten Mann geschart, der seinen räudigen Hund an einer Leine führte. Sie beschimpften und beleidigten den alten Mann, so dass der Sufi sich der Menge näherte und wissen wollte, warum sie den Alten so dermaßen herabwürdigten. Einer der am lautesten seine Beschimpfungen kund tat, gab zu verstehen: „Wir wollen diesen Alten mit seinem räudigen Hund nicht bei uns leiden!“
Daraufhin stellte sich der Sufi zwischen die Menge und den Alten und sagte: „Aber dieser alte Mann ist mein Lehrer! Habt ihr noch nie gehört, dass wir alle unsere Lehrer würdig behandeln sollen?“ Einer aus der Menge richtete seinen Ärger gegen den Sufi: „Du bist ein Lügner! Er kann gar nicht dein Lehrer sein, denn du hast ihn ja gerade erst gesehen!“
Der Sufi gab mit einem leichten Lächeln zu verstehen: „Oh nein, mein lieber Freund, ich lüge nicht! Du täuschst dich! Denn dieser alte Mann mit seinem angeleinten Hund ist für uns alle ein Lehrer. Er hat nämlich gelernt, sein Tier zu beherrschen und es an der Leine zu führen. Wir alle, mich eingeschlossen, haben unser inneres Tier noch gar nicht gänzlich erkannt, wodurch wir ihm häufig gestatten, uns zu kontrollieren. Oft genug hat dieses innere Tier unsere Vernunft und unser Gemüt an der Leine! Ich empfehle Euch also – bevor ihr Euch über die Räude des Hundes aufregt – doch lieber Euren inneren Zustand zu reinigen, denn dieser Zustand wird Eure zukünftige Heimat in alle Ewigkeiten sein!“
Was Sufis zu Gewissen und Bewusstsein sagen
Als Sufi gewinnt man weitere Klarheit über das Gewissen, wenn man die oben erwähnten Unterkategorien ein weiteres Mal unterscheidet. Es geht darum, die Beweggründe für eigenes Verhalten zu erkennen, wenn man die täglich auftretenden Phänomene während dem Mohassebeh eingehender betrachtet. Dadurch wird man allmählich zum Arzt der eigenen Seele, da man den Weg zur Genesung der eigenen Malaise entdeckt und schließlich zum Arzt für andere Seelen wird, nachdem man sein Ego überwinden gelernt hat. Praktisch gesehen, tritt dieser Fall ein, wenn man eine Stufe der Ego-Beherrschung erreicht hat, bei der man seine Seele mit dem universellen Bewusstsein verbunden hat und den Zustand des Nirwana oder mit einem sufischen Begriff, Fana (Auflösung), erreicht hat!
Darüber hinaus lernt man durch diese Maßnahme auch das Wesen des eigenen Bewusstseins verstehen und erkennt die Beziehung zum Gewissen. Es ergibt sich ein Bild von der vielstufigen Gestalt ihres Bewusstseins. Man bemerkt, dass das Bewusstseins gebende Phänomen, das man gewöhnlicher Weise Seele nennt, physische Verknüpfungen enthält, wodurch man Zugang zur physischen Welt bekommen kann und in eine Interaktion mit der Außenwelt geraten kann. Es gibt jedoch auch verborgene Ebenen, die nicht verwoben sind mit materiellen Aspekten und eine rein metaphysische Natur haben.
Diese physischen Verknüpfungen kann man dreiteilen: der Palaeocortex (das sogenannte alte Tierhirn, das andere Tiere dieses Planeten auch haben), der Neocortex (das sogenannte neue Hirn, Zentrum unserer Fähigkeit zu Vernunft, Logik und analytischer Intelligenz) und schließlich unser Herz. Der Palaeocortex steuert unsere autonomen Lebensfunktionen wie den Atem, die Verdauung usw. und gilt als Ego einer Person. Der Neocortex hingegen ist das Zentrum unserer Verstandestätigkeiten, der bei den meisten Menschen in starker Verflechtung mit den Palaeocortex Tätigkeiten ist und vom Ego gesteuert wird.
Aus diesem Grund sind die ersten Phasen von Mohassebeh der Entdeckung dieser Verbindungen gewidmet. Danach geht es um eine allmähliche Veränderung dieser Verbindungen, um zu einem anderen Verhalten oder einer anderen Auffassung von der Welt zu führen, das den Charakter einer Person ausmacht. Dieser Prozess stellt also eine Art Neuprogrammierung dar, die durch die Neuroplastizität unserer Hirne möglich ist und neue Verbindungen der Neuronen schaffen kann.
Diese neuronalen Verknüpfungen, die den Charakter einer Person bestimmen und eine geistige Weiterentwicklung ermöglichen, sind nicht ausschließlich auf neuronale Netzwerke beschränkt. Übende werden eine allmähliche Verbindung zwischen ihrem Herzen und ihrem Hirn aktivieren und dadurch die Gewissensfunktion mit der metaphysischen Seite ihrer Seele stärken. Das Herz ist der Durchlass in die metaphysische Dimension unserer Seele.
Sobald dieser Zugang zur metaphysischen Seite offen ist und sich weiterentwickelt hat, beginnt die Selbst-Überprüfung der eigenen Verhaltensweisen während des Mohassebeh, nicht mehr nur auf Grundlage der Sinneswahrnehmungen abzulaufen. Die fünf inneren Sinne oder Seelenorgane werden zur Selbst-Überprüfung beitragen. Jetzt tragen Intuitionen, Inspirationen und geistige Offenbarungen oder andere Kommunikationsweisen dazu bei, Informationen aus der äußeren Welt und aus feinstofflichen Dimensionen mit denen sich ihre Seele verbinden kann, zu erhalten und sind eine Folge der geistigen Übungen. Dadurch wird ein Sufi zu einem Wesen, das nicht mehr nur ein eindimensionales Wesen oder eine Person, die in den vier Dimensionen der Raum-Zeit gefangen ist, sondern wandelt sich innerlich in ein multidimensionales Wesen. Denn man erhält dann im Wachzustand Zugang zu Inhalten aus feinstofflichen Ebenen mittels Intuition, Inspiration und anderen Wegen oder sogar tieferen Zugang während einer tiefen Meditation.
Als ein Ergebnis ihrer Weiterentwicklung, betrachten die Schüler ihr Verhalten und die Wendungen ihres Egos nicht nur im Licht ihres Verstandes, denn sie lernen allmählich eine noch wirksamere Lichtquelle für Ihre Selbst-Überprüfung anzuwenden. Letztlich führt das zu der Fähigkeit das Licht der eigenen Seele auf Verhältnisse scheinen zu lassen und auch während des Mohassebeh zu nutzen. Dank dieses Lichtes können sie auch die immer enger werdenden Pfade der Geistesentwicklung bewältigen. Diese Pfade sind eine endlose Reise hin zur Vollkommenheit, also zur Verbindung mit dem universellen Bewusstsein!
Einige der von Philosophen wie Kant erwähnten Stufen der Ethik und Moral wird man als Sufi zu Beginn der regelmäßigen Durchführung von Mohassebeh durchlaufen, doch im weiteren Verlauf der Entwicklung werden die Handlungen und die geistige Führung, die ihnen zu Teil werden, die von Philosophen markierten Grenzen überschreiten. Sie werden eine geistige Führung durch das Universelle Bewusstsein erfahren. Aus dieser Erfahrung heraus werden Geistesschüler eine unmittelbare Erfahrung gewinnen, dass ihre eigene Essenz und die gesamte Schöpfung stets verwoben sind mit der gleichen Seins-Wirklichkeit. Von dieser Perspektive aus sehen und respektieren sie die gesamte Schöpfung. So konnte Sa’adi auch seine berühmt gewordenen Zeilen formulieren:
Wir Menschenkinder sind ja alle Brüder
Aus einem Stoff, wie eines Leibes Glieder.
Hat Krankheit nur einzig’s Glied erfasst,
So bleibet And’ren weder Ruh’ noch Rast.
Wenn And’rer Schmerz dich nicht im Herzen brennet,
Verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennet.
Sa’adi begründet seine eigentliche Definition eines menschlichen Wesens damit, dass eine Person mit anderen Menschen mitfühlen kann!
Man erreicht also den Moment, durch eigene Erfahrungen das Verhältnis zwischen Gewissen und Bewusstsein zu verstehen und die inneren Potentiale der Seele zu entfalten, derer man nicht gewahr war, bevor man seine geistige Entwicklung vorangebracht hat. Nach diesem Moment sind sie in der Lage, auch anderen Schülern bei diesem Unterfangen zur Seite zu stehen.
Die Lehren für eine zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft
Angesichts vielfältiger Herausforderungen, welchen sich die Menschheit im 21. Jahrhundert gegenüberstehen sieht, könnte einer der effektivsten Wege für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, die oben ausgeführten Beschreibungen hin zu einem sozialen Gewissen sein.
Das gemeinsame Gewissen einer Gesellschaft wird auf individueller Basis entwickelt, indem solche entscheidenden geistigen Prinzipien wie Mohassebeh in das allgemeine Bildungscurriculum integriert werden. Denn es ist, wie man dem französischen Schriftsteller André Malraux nachsagt, dass er zu bedenken gegeben hat: „das 21. Jahrhundert wird entweder ein spirituelles sein oder aufhören zu existieren!“
Erinnern wir uns an die sich weiter ausbreitenden egoistischen Verhaltensweisen überall in unserer globalen Gemeinschaft: Umweltthemen, wirtschaftliche Schieflagen, soziale Ungerechtigkeiten oder darniederliegende Menschenrechte. Ein Ansatz für die Weiterentwicklung des weltweiten Gewissens der Menschheit kann der Versuch sein, die Reifung des individuellen Gewissens anzuregen, was unabdingbar in der breitgefächerten Basiserziehung veranlagt werden und mit spirituellen Übungen wie Mohassebeh durchdrungen sein muss. Dieser Ansatz sollte jedoch nicht als theistisch oder religiös betrachtet werden, da er keinen Glauben und keine Doktrin zur Voraussetzung hat. Es handelt sich nämlich um eine persönlich zu erlangende Erfahrung, die durch eine Reihe individueller Übungen unter der Anleitung eines qualifizierten Lehrers, erlangt werden. Die Übungen können in jedem Individuum eine Gewissheit ihrer eigenen inneren Realität wecken und haben keinerlei Glaubensvoraussetzungen. Es ist wie das Sprichwort sagt: Erst wenn du den Pudding kostest, weißt du, dass es Pudding ist.
In dieser Hinsicht sind Sucher wie die Sufi nichts als gnostische Wissenschaftler, die als Wissenschaftler angesehen werden sollten, welche ein wissenschaftliches Experiment in einem abgeschlossenen Labor durchführen. In diesem Zusammenhang symbolisiert das Labor den menschlichen Körper und das zu Untersuchende ist das Gewissen der Person, sowie das Phänomen, das der Person ein Bewusstsein verleiht. Des Weiteren symbolisiert die Sterilität eines Labors in diesem Fall den individuellen Reinigungsprozess von allem Aberglauben, Vorannahmen und irrigen Vorstellungen, damit die Suchenden ihre Erfahrungen in Bezug auf ihr wahres Wesen mit klarem und freiem Geist durchführen können.
In dieser Weise kann jeder Mensch einen erfahrungsgestützten Weg zu innerer Erleuchtung gehen. In diesem Zustand des Nirwana oder Fana sind Subjekt und zu untersuchendes Objekt Eins geworden. So kann man auf individueller Basis lernen, sein Ego zu beherrschen und ein Teil werden einer Gesellschaft, die zusammenhält; einer Gesellschaft, in der das gemeinsame Bewusstsein dieser Gemeinschaft zu einer höheren Schwingungsfrequenz gehoben wird. Auf diesen Paradigmen-Wechsel bezog sich André Malraux mit seiner Aussage über den Schlüssel für das Überleben der Menschheit im 21. Jahrhundert!
Wenn es einem großen Anteil der Menschheit gelänge, sich von einer egoistischen Lebenshaltung zu befreien, werden Herausforderungen wie Armut, Hunger und andere Themen handhabbarer. Denn dann wird nicht dauerhaft nur eine Gruppe Macht und Reichtum für sich beanspruchen und immer wieder auf Kosten einer anderen Gruppe leben. Wenn uns dieser Wechsel nicht gelingen sollte, werden wir die großen Probleme der Geschichte immer wiederkehren sehen.
Ein Ausweg aus diesen wiederholten Tragödien der Menschheitsgeschichte und der aktuellen globalen Probleme ist unweigerlich verknüpft mit unserer individuellen Entscheidung, die oben beschriebenen Schritte zu unternehmen. Sie führen zur Befreiung aus den Klauen unseres Egos, indem wir unser Gewissen mit unserem Bewusstsein vereinen!
[1] Sufi – Mystiker, die ihre Weisheiten aus unmittelbarer Anschauung erfahren. Sie halten es für möglich, dass jeder Mensch durch disziplinierte und motivierte Anwendung bestimmter geistiger Übungen einen Zustand der inneren Freiheit und Selbstlosigkeit zu erreichen. In manchen Kreisen spricht man von der Reifestufe eines Ethischen Individualismus. Sufi ist eine Bezeichnung, die vor allem im Zusammenhang mit Islam auftritt. Nach Ansicht mancher Religionsforscher und nach Aussagen von Sufi Eingeweihten, tritt die Bezeichnung Sufi als Synonym für Gnostiker, Sethianiker oder Freunde Gottes auf und stellt eine Jahrtausende alte Folge von Menschen dar, die sich den geistigen Übungen unter der Begleitung eines Lehrers, der die Methoden vermittelt und den Entwicklungsprozess überwacht. Ein Sufi ist also vom Prinzip her mit keiner Religion oder Dogmen verbunden. Aus gesellschaftlichen, politischen oder opportunen Gründen kann es jedoch nicht selten vorkommen, dass Personen oder Personengruppen im Zusammenhang mit Sufitum als teil einer Glaubensgemeinschaft auftreten.
[2] Sokrates Gedanken werden in diesem Artikel von Viktoria Bachmann genauer betrachtet: https://www.philosophie.ch/artikel/gut-leben-aber-wie
[3] Mohassebeh kann wörtlich mit Buchführung übersetzt werden
[4] Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. In: Werke, Bd. 6, Akademie Ausgabe, Berlin 1969 ff, S. 400f
[5] Für eine weitere Beschäftigung mit Kants Ansätzen, könnte diese Webseite hilfreich sein: http://www.ethics-workshop.de/Kategorischer_Imperativ.htm
[6] Er war ein Schüler Ali ibn-Talibs, dem spirituellen Nachfolger des Propheten Mohammed.
[7] Sa’adi aus Schiraz war ein Sufi Meister und Dichter, er lebte im 13. Jahrhundert im Persischen Reich.